Jahresrückblick 2024
Blitzlicht aus Berlin, im Frühsommer 2024
Es ist eine angestrengte Spannung in Berlin. Eben ging die Europawahl zu Ende und die Prognosen sagen uns nichts voraus, was einen guten Politikstil in Brüssel für die Zukunft verspricht; Macron hat schon Neuwahlen angekündigt und selbst Berlin ist politisch zerteilt, eigentümlich dreigeteilt, anders als manche:r vermutlich dachte und irgendwie dramatischer, als ich es mir vorstellen wollte…
…dass Axel Burkart im Rudolf Steiner Haus, eingeladen vom Initiativkreis der Anthroposophischen Gesellschaft Berlin, eine fulminante Plattform geboten wird, ist auch in diesem Zusammenhang nicht egal – auch wenn das kein Großereignis für Berlin ist. Aber es ist eine wirksame Veranstaltung, und sie sendet Aussagen, die Anknüpfungspunkte bieten für allerlei Denken und Meinen nahe dem der „Neu-Rechten“- Gesellschaftsströmung oder auch für Liebhaber:innen mystischer Esoterik und Verschwörungserzählungen.
Die Menschen, die sich für Waldorfpädagogik interessieren, die sich irgendwie angesprochen fühlen, von dem was wir tun, sind dadurch und deshalb zurecht überaus irritiert und abgeschreckt.
Wie ungeschickt, wie töricht stellen wir uns an! Warum formulieren wir nicht wenigstens kontextualisierende Fragen, machen klare Kante und Distanz deutlich, wenn man schon meint, man müsste mit Menschen solcher Gesinnung ins Gespräch kommen. Nein, es bleibt bei einer verbrämt billigen: „das muss man doch sagen dürfen“- Haltung, scheinbar um einer zweifelhaften Schwurbelfreiheit Vorschub zu leisten.
Der Sommer lässt sich schwierig an; zwischen zu viel Wasser und zu viel Trockenheit schwanken die Warnungen des Wetterdienstes, ich schwanke mit und werde doch nicht müde daran zu glauben, dass wir als Waldorfbewegte, dieser Erde noch etwas Gutes geben können, dass wir den Generationen Alpha, Beta und …bis Omega einen lebendigen, fruchtbaren und auch zarten Zugang zur uns umgebenden Mitwelt aufzeigen können, dass wir noch Anschluss finden an die elementaren, bildenden Kräfte dieser Gesellschaft in diesem Weltzusammenhang.
Gute 160 Beratungen haben wir mit Interessierten für das kommende Studienjahr geführt, das ist ganz ordentlich – ein Viertel davon mag in die Kurse kommen.
Dramatisch allerdings ist, dass kaum in der Ausbildung, die Studierenden schon wieder weggeholt werden, von den Schulen selbst! Die Neueinsteiger:innen müssen sofort eigenverantwortlich unterrichten – es gibt derzeit nun wirklich viel zu wenig Lehrer:innen.
Das ist für sich genommen schon ein echtes Problem, wenn Ausbildung und Einarbeitung zeitgleich sich vollziehen sollen. Da sei jetzt noch nicht einmal auf die viel bemühten prägenden Ausbildungsqualitäten geschaut, die drohen verloren zu gehen, sondern auf geklärte Haltungen, die es braucht, um als Lehrerin oder Lehrer mit den Schülerinnen und Schülern die Entdeckung der Welt zu unternehmen, um den jungen Erwachsenen auch Orientierung für den Augenblick zu geben, damit sie befähigt werden, ihre inneren Impulse in wacher Klarheit wahrzunehmen und sich nicht auf populistische Rattenfänger:innen oder verschwörende Erklärbär:innen einzulassen, und auch nicht den Signalen versuchendem Trompetenspiel zu folgen („Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete.“ Herta Müller zugeschrieben).
Dazu braucht es den Freiraum der Klärung, in jedem Alter übrigens – den bieten die Ausbildungsstätten, wenn man sie lässt.
„Druckbetankung“ und Survivalpädagogik sollten niemals unser Maßstab sein – wir verlieren sonst wohl ganz die Tiefe und Orientierung. Hier am Berliner Seminar ringen wir darum, diese Möglichkeiten von Ausbildung zu sichern. Gemeinsam arbeiten wir mit unseren Kooperationspartnern aus Stuttgart, Hamburg und Kiel daran, Freiräume zu erhalten, um nicht durch die akademischen Korsagen und Festlegungen zu sehr eingeengt zu werden – im kommenden Jahr dann, mit neuen Kolleg:innen, die im Kunstbereich richtig durchstarten! Und hoffentlich auch wieder mit einigen Student:innen mehr, als in den letzten beiden Jahren.
Gleichwohl machen wir uns natürlich auch darüber Gedanken, wie sich gemeinsam die Lehrer:innennot an den Schulen lindern lässt und entwickeln einige Konzepte, die flexibler und individueller gestaltbar sind – auch wenn es zuweilen schmerzt, wenn weitere Ausbildungsmodule verkürzt werden oder ersatzlos wegfallen.
Als Kooperation sollten wir noch kräftiger sichtbar werden und wirksame Ausstrahlung entfalten, als kleine, im Alltag ein bisschen schimmernde vielfarbige Einrichtungen, die dem drohenden grau-braun etwas entgegenstellen.
In Berlin soll diesem Auftrag auch dadurch Rechnung getragen werden, dass wir Waldorf ins Zentrum stellen und unser Bauvorhaben weiter vorantreiben – mitten in Berlin, mitten in der Gesellschaft – inmitten der brandenden Öffentlichkeit, für alle erlebbar.
Christoph Doll