Pädagogik vom Kinde aus

Lehrer haben es vornehmlich mit Weltinhalten zu tun. Die Vermittlung des Stoffes spielt naturgemäß eine große Rolle. Darüber vergessen wir oft die Kinder.

Im Mittelpunkt der Waldorfpädagogik steht die Frage nach dem werdenden Menschen. In einem jeden Menschen steckt eine unverwechselbare Individualität verborgen. Diese entsteht nach Auffassung der Waldorfpädagogik weder mit dem Zeugungsakt noch ist sie ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse.

Der Mensch gehört sich selber. Was bedeutet das für Erziehung und Unterricht? Die Individualität eines Menschen, das Ich, ist nicht nur schwer erziehbar: es entzieht sich jedem direkten Zugriff. Wäre das anders, dann gäbe es keine Erziehung, die die Freiheit des Menschen zum Ziel hat.

Eine Erziehungsaufgabe besteht darin, um das Kind herum ein Klima und eine Atmosphäre herzustellen, die auf das Ich anregend wirkt. Dabei ist es von großer Wirkung auf das Kind, wenn es erlebt, dass Lehrer Freude an ihrem Beruf haben. Davon sollte in jeder Unterrichtsstunde etwas bemerkbar sein. Das ist aber nicht alles. Ein Zweites betrifft die Methoden. Ein guter Unterricht wendet sich nie nur an die kognitiven Fähigkeiten, es sollte immer der ganze Mensch angesprochen werden. Das hat Pestalozzi schon erkannt, der eine Erziehung für Kopf, Herz und Hand forderte. So spielt das handelnde Lernen eine große Rolle in der Waldorfpädagogik. Schon aus diesem Grunde kommt den künstlerisch–praktischen Fächern eine so große Bedeutung zu.

In der handelnden Welterfahrung verbinden sich die Kinder emotional mit dem Stoff. Erst, wenn das geschehen ist, kommt es zu einer gedanklichen Aufarbeitung des Stoffes. Dem Verstehen muss die Erfahrung vorausgehen. In der Waldorfpädagogik werden Bildungs- und Lernvorgänge mit einem künstlerischen Prozess verglichen. Auch bei sorgfältigster Planung läuft der Unterricht doch nach ganz eigenen „Gesetzen“ ab. Dass dem so ist, dafür sorgen schon die Kinder und Jugendlichen. Gefordert ist die Fähigkeit, aus dem Augenblick intuitiv zu handeln. Intuitiv heißt hier nicht, dass man irgendwelchen Einfällen nachgeht, sondern, dass man versucht, sich immer auf die Situation der Kinder und Jugendlichen in einer Klasse neu einzustellen, auch dann, wenn man ein bestimmtes Gebiet schon mehrere Male unterrichtet hat.

Versucht man in dieser Weise vorzugehen, dann treten eine ganze Reihe von Aufgaben und Fragen auf. Immer geht es um das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Wann fordere ich den Intellekt heraus? Wann geht es mehr um das Tätig–Sein? Wann geht es um den einzelnen Schüler in der Klasse? Wann soll die Gemeinschaft der Kinder angesprochen werden? Gemeint ist der richtige Wechsel zwischen Spannung und Lösung, zwischen Erinnern und Vergessen.

Wieso Vergessen? Das mag verwundern. Das Vergessen ist ein integraler Bestandteil des Lernens. Wenn man etwas im Schlaf kann, dann kann man es wirklich. Rudolf Steiner vergleicht das Lernen der Kinder im Unterricht mit dem Prozess der Nahrungsaufnahme. Im Vergessen steckt ein verborgenes „essen“. Immer wird es im Unterricht auch eine Aufgabe sein, die Vitalität und Gesundheit – seelisch wie leiblich – zu fördern und zu stärken. Die zunehmenden Probleme, mit denen Kinder heute in die Schule kommen sprechen hier eine deutliche Sprache. Lehrer haben heute mehr denn je auch soziale und vor allem therapeutische Aufgaben.

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