Wir haben zu lange gezögert

In einer Zeit, in der Hunderttausende Menschen in sinnlosen Kriegen sterben, mag es unaufrichtig erscheinen, nur über einen einzigen dieser Konflikte zu sprechen. Dennoch fühlen wir uns am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin verpflichtet, uns dem israelischen Dirigenten Ilan Volkov anzuschließen und einen eindringlichen Appell an unsere Regierungen zu richten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Töten in Gaza zu beenden.

https://youtube.com/shorts/Nr9hesKNtDc?si=AuKIG6RHIe1VVFbu

Schule und Gesundheit / Vortrag von Prof. Zdražil

Audiomitschnitt von einem Vortrag zum Thema „Schule und Gesundheit“ mit Herrn Prof. Dr. Tomáš Zdražil von der Freien Hochschule Stuttgart

Der Vortrag fand am Montag, den 22.09.2025 um 19 Uhr in der Aula der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte statt.

Hier die Folie zum Vortrag: Schule und Gesundheit (PDF)

Mit der modernen Schule als einer staatlichen Institution mit wichtigen politisch- gesellschaftlichen Funktionen (Berechtigungserteilung, Allokation, Selektion) werden psychosoziale Belastungsfaktoren für Kinder und Jugendliche verbunden, die negative gesundheitliche Auswirkungen haben können. Vieles davon ist in den Begriffen
„schulischer Leistungsdruck“ und „elterlicher Erwartungsdruck“ enthalten. 
Ausgehend von mehreren empirischen Studien zum Gesundheitszustand der Waldorfschüler stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Gesundheit im waldorfpädagogischen Ansatz. Dieser pädagogische Ansatz, in seiner ausgeprägten Ganzheitlichkeit, wie auch die rhythmisch und langfristig biographisch wirksamen Aspekte von schulischen Erfahrungen und Erlebnissen, scheinen bei Pädagog:innen eine besondere Sensibilität für die gesundheitlich schützenden, vitalisierenden und harmonisierenden Faktoren des Schullebens, zu veranlagen.

Die Kategorien der Gesundheit, der gesunden Entwicklung und des Wohlbefindens der Schüler:innen, werden zunehmend bedeutsam, längst nicht nur unter Medizinern, auch nicht nur unter den Bildungswissenschaftlern, sondern vor allem auch im Bewusstsein der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit und der Elternschaft. Die Perspektive der Salutogenese, der Gesundheitsförderung und der begrifflichen Instrumente und Mittel der Gesundheitswissenschaft ermöglicht einen solchen Zugang zur Waldorfpädagogik, der ihre Ziele wie auch die mit manchen Vorurteilen oder mindestens mit terminologischen Schwierigkeiten behaftete, anthroposophische Anthropologie besser verständlich machen kann.

Zur Person:

Prof. Dr. phil. Tomáš Zdražil hat Geschichts-, Archiv-, Erziehungswissenschaft wie auch Waldorfpädagogik studiert. Promoviert hat er im Graduierten-Kolleg der Fakultät für Pädagogik an der Universität Bielefeld mit dem Thema „Gesundheitsförderung und Waldorfpädagogik“. Er hat mehrere Jahre als Klassen- und Oberstufenlehrer in Tschechien gearbeitet und lehrt aktuell an der Freien Hochschule Stuttgart – Seminar für Waldorfpädagogik.

Abschluss 2025

Am 21. und 22. Juli trafen sich alle Seminarist:innen des Waldorfseminares Berlins und verabschiedeten die Klassen,- Fach- und Oberstufenlehrer:innen die in diesem Jahr ihre Aus- und Weiterbildung sowie ihr Masterstudium beendeten.

Es war ein schöner und erfüllener Tag und Abend mit Rückblicken, Ausstellungen der Plastizier und Malarbeiten, mit gemeinsamem Kochen und Essen, Auftritten der Studierenden- und Dozentenband, Zeugnissprüchen für die Dozent:innen und Urkundenübergabe an die Studierenden.

Wir wünschen unseren, jetzt ehemaligen Seminarist:innen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute!

Was tut der Wind, wenn er nicht weht? Jahresrückblick 2025

Stabilisierung mit begeisternden Angeboten und sinnvollen, nachhaltig wirksamen Neuerungen!

Unsere Teilnehmendenzahl hat sich stabilisiert und liegt bei 80, Tendenz steigend. Genau diese Zahl war vor acht Jahren der Ausgangspunkt für einen stetigen Anstieg, bis wir vor fünf Jahren 120 Teilnehmende aufnehmen konnten – dann kam die Pandemie und eine Reihe von multiplen Krisen, die die Menschen unsicher werden ließen. Es gab weiterhin Interesse, aber nicht mehr den Mut, sich auf einen Weg zu machen, der ebenfalls Unsicherheiten mit sich bringt. Denn wer weiß zu Beginn eines Studiums schon, ob die eigenen pädagogischen Fähigkeiten ausreichen werden, ob die waldorfpädagogischen Ansätze und Anforderungen wirklich in das eigene Leben passen, ob eine „Verbindung“ zur Anthroposophie wirklich erduldbar ist… Und abgesehen von diesen individuellen Unsicherheitsgefühlen wissen wir alle, wie einem die permanente mediale Verhandlung der Waldorfpädagogik zusetzen kann.

Entwicklung Studierendenzahlen Seminar für Waldorfpädagogik Berlin

Gleichzeitig zu diesen schon erschwerenden Bedingungen haben sich gesellschaftliche Tendenzen und politische Sachverhalte eingestellt, die ebenfalls uns zur Erschwernis gereichen: Das Ansehen des Lehrberufes ist sehr gesunken, die pädagogischen Studiengänge suchen fast verzweifelt Erstsemester; Quereinstiegsmöglichkeiten in großer Zahl bieten Möglichkeiten schnell und zukunftssicher eine Lehrer:innenlaufbahn zu beginnen und Berlin und manch anderes Bundesland locken – wieder – mit der Verbeamtung.

Es kommen die geburtenschwächeren Jahrgänge, so dass die Klassen nicht mehr voll werden – nichts ist mehr selbstverständlich. Schule muss attraktiv werden, interessant für Eltern, zeitgemäß Entwicklung fördernd für die Kinder, sinnstiftend für die jungen Erwachsenen und einen Arbeitsplatz bietend, der es Lehrer:innen möglich macht, eine Pädagogik für das 21. Jahrhundert zu verwirklichen.

Auch unser gemeinsamer Konsens, was Lehrer:innenbildung leisten und bieten muss und sollte, ist nicht mehr gegeben – zu oft wird nur noch danach geschaut, dass es schnell geht. Weder die „Räte“ noch die „Seminarekonferenz“ noch der „Bundesvorstand“ finden hier zu einem klaren Bild, denn es individualisiert sich überall.

Wenn sich nun aber jemand mit Rhythmen auskennt, dann doch wohl wir Waldorfpädagog:innen. Umso unverständlicher ist es, dass wir diese Kenntnisse nicht für die Prozessgestaltungen und organischen Entwicklungsformen in unseren Einrichtungen und unserer ganzen Waldorf-Bewegung zur Geltung bringen, sondern immer wieder versuchen zu beschleunigen. Wir kommen jetzt erst ins dritte Jahr nach der Pandemie und erwarten schon, dass das allgemeine Trauma überwunden ist und die Zahlen wieder „normal“ werden. Das kann nicht funktionieren.

Was wir aus Berlin signalisieren können ist: Die Anzahl der interessierten Menschen an einen Waldorflehrberuf ist massiv gestiegen – auch wenn noch nicht alle sofort eine Weiterbildung oder ein Studium beginnen. Aber hier gibt es eindeutig einen positiven Trend, außerdem haben wir den Tiefpunkt der Teilnehmendenzahlen wohl erreicht und stabilisieren jetzt dieses Niveau als Basis zur Trendumkehr – das geht alles nicht schnell, wir dürfen aber das Prozessvertrauen und die Geduld nicht verlieren. Entwicklung und Transformation braucht gehörig Zeit.

Wenn wir sagen, wir haben diese Zeit nicht, dann ist das eine andere Diskussion, dann müssen wir wirklich über Qualitäten sprechen. Wir haben hier unsere Studiengänge so umgestellt, dass sinnvolle Effekte eintreten, in Bezug darauf, wie sich die kleineren Studiengruppen effektiver zusammen erreichen lassen.

Das Wichtigste aber in dieser Zeit: Um konkrete reale Erlebnisse erfahrbar zu machen und die Verbindung zu unserer Mitwelt zu spüren und dies als Grundlage zu eigener Urteils- und Begriffsbildung zu stärken, geben wir allen Formen des phänomenologischen Weltzugangs und des künstlerischen Ausdrucks mehr Raum.

Das braucht Zeit, führt aber zu den Elementarerlebnissen, die es braucht für die professionelle Identitätsbildung und die Entwicklung der individualisierten waldorfpädagogischen Methodik der Weltbegegnung.

Ein solcher Bildungsweg braucht Freiraum, braucht Entwicklungsraum, braucht Krise und Neuentdeckung – darauf wollen wir derzeit nicht verzichten.
Die Studierenden danken uns dies, denn diese Form der Entschleunigung und „Neufindung“ ist für manche Biographie wie eine Neuschöpfung.

Outside the box – Out of the bubble!

Radio Teddy Okidoki Kinderfest Juli 2025

Am Pfingstwochenende im Juni 25, lud Radio Teddy zum Okidoki Kinderfest auf den Potsdamer Platz in Berlin ein. Zusammen mit den Waldorfschulen Berlin/Brandenburgs, dem Bund der Freuen Waldorfschulen, den Waldorfkindergärten und der Freien Fachschule für Sozialpädagogik bespielte das Waldorfseminar Berlin drei große Zelte mit Tischen und Bänken. Die Firma Stockmar sponsorte einen Großteil der Bastel- und Malutensilien und so konnte nach Herzenslust gemalt und geknetet, sowie Taschen mittels Siebdruckverfahren selbst bedruckt werden. Zwar kämpften wir mit Sturm und Starkregen, die uns an beiden Tagen zum frühzeitigen Abbau zwangen, die Tische und Bänke aber blieben rund um die Uhr besucht von Kindern, Eltern und Großeltern. Eine offene fröhliche  Stimmung durchzog die beiden Tage. Ohne zu zögern, saßen die Kinder am Tisch und legten los. Die Eltern waren offen und es entstanden spannende Gespräche zu Fragen rund um Waldorfschule, Kindergarten und Lehrer:innenbildung.

Wer hätte das gedacht?

Radio Teddy? Rund um unseren Stand spannte sich das Portfolio von Haribo bis Nintendo. Und ja, wir ganz selbstverständlich mit dabei, irgendwie eine weitere  Farbe in einem etwas grellen Umfeld.   Das schönste Erlebnis an diesem Wochenende war, dass alle Menschen offen waren, keine Kritik, keine Infragestellung, kein Angriff! Natürlich wurden uns auch schlechte Erfahrungen berichtet, sogar eine Beschwerde, weil das Kind nicht in der Schule aufgenommen wurde: Ja, wirklich blöd! Aber schlechte Erfahrungen machen wir alle im Leben, überall. Wir brauchen uns nicht ducken, weil so etwas auch an Waldorfschulen passiert: Ist doch klar.

Und wenn wir ehrlich sind, und sagen, wir sind lebenslang Lernende: Ist das nicht der Moment, wo wir dem, der an unseren Stand kommt, zuhören und eben erst „lernen“ müssen, was in diesem Moment zu diesem Menschen zu sagen ist?
Die Menschen suchen nach Alternativen und sie fragen mit Recht: Worin unterscheidet sich die Waldorfschule von der Staatsschule?
Dann hast du 30 Sekunden Zeit.
Begegnung braucht Geistesgegenwart.

Marian Conens – Öffentlichkeitsarbeit Waldorfseminar Berlin

 

Rudolf Steiner in Berlin

Anlässlich Rudolf Steiners 100. Todestag, entschied das Kollegium des Waldorfseminars, den Spuren von Rudolf Steiners Wirken in Berlin nachzugehen. Reinhard Wegener leitete uns, als kompetenter Kenner, zu einigen Stationen:
Hotel Stuttgarter Eck, Potsdamer Platz, Architektenhaus Wilhelmstraße 92/93 – heute Finanzministerium (Nr. 97),  Staatsoper Unter den Linden, der Deutsche Dom, Blauer Saal – Potsdamer Straße 39/39a – heute Camaro Haus, das Rote Rathaus von Berlin, Motzstraße 30 (fünfte Wohnung R. Steiners).

Zu den Orten von Rudolf Steiners Vorträgen, Ansprachen, Eröffnungfeiern, zentralem Sitz der anthroposophischen Arbeit, Zweigräumen, Stammtischen, Cafés und Unterkünften, konnte Herr Wegener vor allem die Entstehungsgeschichte und die Zusammenhänge mit diesen darstellen. Beeindruckend war immer der reale Ort: Insofern ein Höhepunkt der Besuch im Blauen Saal.

Wir empfanden diesen Rundgang als Auftakt, denn zu jeder einzelnen Station wäre ein eigener Termin möglich – vielleicht auch, um noch tiefer zu erschließen, wie sich die Wirkensorte im Laufe der Historie verwandelt haben. Das, hatte Herr Wegener angedeutet, würde aufgrund der Zeit, für jeden Einzelnen nur im Nachgang oder im Nachsinnen und Forschen ganz erschließbar.

Eine Audio-Aufnahme des Rundgangs wurde gemacht und soll bald zur Verfügung gestellt werden.
Wir danken Herr Wegener nochmal herzlich für seine Zeit und Expertise.

 

Weihnachtszeit 2024

Eines von über 5000 Plakaten, die am 9.11.24 entlang der Mauerlinie zwischen Tränenpalast und Checkpoint Charlie (ca. 4 km) aufgestellt wurden.

9.11.2024
Auf den Straßen Berlins tummeln sich die Menschen, es sind viele – viel mehr als sonst und bei Weitem nicht nur Touristen. Es vibriert insgesamt. Auch dies ein bisschen stärker als sonst und gar nicht unangenehm – Checkpoint Charlie, es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint, es kann doch nicht November sein. Doch! Zum späten Nachmittag kriecht Kälte das Bein hinauf, aber die Herzen bleiben warm – die Stimmung wippt zwischen Erinnerung und Jetzt, Erlebtem und Erlebnis, die Atmosphäre des Miteinanders trägt.
Das verbindende Erlebnis ist die Erinnerung an die „friedliche Revolution“ vor 35 Jahren. Der Fall der Mauer am 9.11.1989, dieser Moment bewegt noch immer, bewegt Menschen aus aller Welt.
Dass an diesem Datum im Lauf der Geschichte ungeheure Gräueltaten geschahen, sei nicht verschwiegen, auch an die Reichsprogromnacht wurde gedacht, wie an jedem 9.11. und in besonderer Weise hier und heute, wo jüdisches Leben in Deutschland wieder existentiell bedroht wird.
Warum nun diese „Mauerfallerinnerung“ in einem Gruß zum Christfest?
Einfach um dieses einen gemüthaften Eindrucks willen, dass an diesem Tag ca. 500 000 Menschen gemeinsam friedlich feierten und dies möglich war! Dies alleine ist schon eine Nachricht, die Mut machen darf – tausende Menschen treffen sich und singen gemeinsam…und das grundrauschende Motiv ist Freiheit!
Kein erbittertes Rechthaben oder populistisches Polarisieren, zynisches Taktieren oder lügenhaftes Politisieren waren in diesen Stunden maßgeblich.
Man konnte sich einlassen.
Einlassen auf den Moment, arbeiten für ein menschenwürdiges Miteinander – die Kraft des Zukünftigen erfahren – das sind wohl geweihte Augenblicke.
Habt Dank für die vielen froh – friedvollen, intensiven Gestaltungsmomente im vergangenen Jahr und lasst uns offen und wach bleiben für die zarten Begegnungen im Alltag, die Werdendes in sich tragen.

Für das Kollegium grüßen herzlich
Iris Didwiszus und Christoph Doll

Grenzüberschreitungen

Mit freundlicher Genehmigung der Erziehungskunst-Redaktion, freuen wir uns den Artikel von Walter Riethmüller aus der aktuellen Erziehungskunst (Ausgabe 12/24) hier veröffentlichen zu können:

Knapp einhundert Jahre nach dem Tode Rudolf Steiners kann man sich die Frage stellen, welche seiner Ideen heute lebendig sind – und welche womöglich gestorben sind. Unser Autor geht dieser Frage nach und widmete sich im Besonderen der Waldorfpädagogik, wo aus der Anthroposophie gewonnene Ideale Tätigkeit fordern.

Die Anthroposophie verstehe ich als geisteswissenschaftsbasierte «Lebenskunst». Und jede Grenzüberschreitung in der Kunst ist sinnvoll; folglich ist jeder, der sich aufmerksam mit Anthroposophie auseinandersetzt, studierend, meditierend, übend und auch handelnd, im Grunde ein «Grenzübertreter». Er wird durch die kritische Befragung der Grenzen des Hier und Jetzt, der durch Gewissheiten («die Wissenschaft hat festgestellt…», Expertenwissen) gesetzten Erkenntnisgrenzen geradezu motiviert, nicht an geistigen oder psychischen Schlagbäumen Halt zu machen, sondern weiter zu denken – und aus den daraus gewonnenen Ideen zu handeln, das heißt, die Ideen werden als Ideale die Motive seines Handelns.

Die Grenzen nicht zu überschreiten, käme für den suchenden, forschenden, erkenntniskritischen Menschen wohl kaum infrage. Im Gegenteil, das Bemühen um Erweiterung seiner beschränkenden Wissens- und Erkenntnisgrenzen, um geistige Bereicherung also, vergrößert selbstverständlich das seelisch-geistige Potenzial, das sein Handeln beeinflusst. Man bleibt lebendig. Dieses ist ganz im Sinne Goethes: «Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken.»

Sind Ideen der Anthroposophie «sterblich»?

Aus diesem Grund halte ich die Frage, ob manche Ideen Rudolf Steiners gestorben sind, für müßig. Vielmehr ist zu fragen nach den verschiedenen Lebensformen der Ideen: Sind sie wenigstens ansatzweise verwirklicht, lebendig? Oder eben noch nicht?

Wobei anzumerken ist: Leben, lebendig sein, heißt ja, in Bewegung sein in all ihren Facetten, von dynamischen Prozessen bis hin zu ruhigeren Phasen, sich dabei entwickelnd, verändernd, verwandelnd und möglicherweise daraus auch Neues hervorbringend.

Anthroposophie als reines Ideengebäude misszuverstehen, hieße, sie ihrer die Lebensverhältnisse impulsierenden Wirksamkeit zu berauben, sie bliebe unwirksam. Erst wenn die Ideen Motive des Handelns werden, sie ins Leben treten und dann zum Ideal werden, erweist sich ihre Kraft. Das bedeutet, dass Anthroposophie nicht aus einer diffusen Ideenwelt wirkt, sondern aus der Intuitionskraft der sich mit ihr verbindenden Menschen. Das Elegante dabei: Anthroposophie bleibt durch diese alternativlos notwendige Individualisierung vital, lebensfähig, zeitgemäß, möglicherweise auch zukunftsfähig! Der Weg ist das Ziel – und nicht das Wissen um etwas! Dieses ganz im Sinne Rudolf Steiners: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg …».

Gleich fallen einem einige Initiativen ein, welche aus dem Impuls Steiners, die Ideale der Französischen Revolution durch die Dreigliederungskampagne ab 1918 sozial real wirksam werden zu lassen, verwirklicht wurden, sich entwickelten, manche aber auch scheiterten, um in kleineren Zusammenhängen auch heute immer noch beispielgebend zu existieren: in der Medizin, in der Kunst, in der Architektur, in der Landwirtschaft, im Bankenwesen, im sozialen Leben, in der Bildung durch die Waldorfschulen.

Das Gewohnheitsdilemma

Wenden wir uns exemplarisch zentralen Idealen der Waldorfpädagogik zu. Zugegeben: Die Realisierung dessen, was aus der unerschöpflichen Intuitionsfreude der «aus dem Geiste der Anthroposophie» Handelnden erwachsen könnte, lässt zu wünschen übrig – man hat sich an bestimmte Lebensformen gewöhnt, in denen man sich durchaus auch bequem eingerichtet hat. Die Verfasstheit und der Zustand zum Beispiel der in Schulform geronnenen Waldorfpädagogik lässt viel Raum für Neues. Die drei Ideale: «Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! – das ist schließlich Erziehung, das ist schließlich Unterricht», die Rudolf Steiner bei der Eröffnung der ersten Freien Waldorfschule im September 1919 benannt hat, sind wohl kaum mehr als ansatzweise realisiert. Das «Lebendig Werdende» dürfte, je bewährter eine Praxis ist, wahrscheinlicher in Richtung des Bewahrenden tendieren, wie zum Beispiel die Anregungen zum Lehrplan und zur Sozialgestalt der Schulgemeinschaft in Richtung einer Programmatik.

Die Gründe mögen darin liegen, dass «wir», gemeint sind professionelle «Waldorfleute», loyal an unseren Utopien und Schulutopien festhalten, dass wir von unseren Wunschfantasien von Schule, die wir verwirklicht zu haben glauben, nicht leicht loslassen können. Transformationen hin zu neuen Formen von Schule werden gern an dem Gewohnten gemessen und ebenso gern wird ihnen mit dem Grundsatzargument begegnet: «Ist das noch im Sinne der Waldorfpädagogik?» oder «Ist das menschenkundlich begründet?», um der unbequemen Auseinandersetzung und dem riskanten Zulassen von neuen Formen von Waldorfpädagogik, welche das Gewohnte irritieren könnten, auszuweichen. Die Macht der Gewohnheit des Lebens in der Waldorfblase, welche die Augen vor den aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Aufgaben verschließt, wie es Ehemalige in der jüngsten Befragung konstatieren, ist für mich Symptom eines erlahmenden Idealismus. Man leidet, um es kurz zu sagen, an einer Art Blasen-Schwäche.

Ideenwelt lebendig halten

Klammern wir uns, um den Gedanken fortzuführen, an unsere Vorstellungen von Waldorfpädagogik, an unsere Fantasien, Wünsche und sorgen so ungewollt für ein Ersterben des «Lebendig Werdens» von Kunst, Wissenschaft und Religion?

«Nun werde mal wieder lebendiger!» – Klingt absurd, ist aber ernst gemeint. Denn: Wer anders sollte das fordern, wenn nicht jede:r einzelne von sich selbst?

Was fangen wir denn auch an mit unserer ausgedehnten Lektüre von Texten anthroposophischen Inhalts, von Vorträgen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik – beileibe keine Erbauungsliteratur und auch nicht geeignet, sich Wissen «draufzu­schaffen». Denn wem soll dieses nützen, wenn es nicht in die Tat drängte?

Sich mit Ideen nur intellektuell zu beschäftigen, ist kräftezehrend, in gewisser Weise schwächend. So schrieb Steiner: «Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft.» Dagegen jedoch: «Jede Idee, die aber zum
Ideal wird, erschafft in dir Lebens­kräfte.» Was hindert uns, mit diesen tatsächlich lebendiger zu werden?

Weckrufe

Ausführungen Steiners zu Idealen, die in naher Zukunft wirksam werden sollen, rufen geradezu nach diversen Verwirklichungsstrategien, gerade im Bereich der Erziehung. Kurz gesagt, handelt es sich um diese drei Ideale, die am 10. Oktober 1916 in Zürich in einem Vortrag von Rudolf Steiner, man muss schon sagen, in die Zeitsituation «hereingerufen» wurden: «Das erste ist soziales Menschenverständnis, das zweite ist Erwerbung der Gedankenfreiheit, das dritte ist lebendiges Wissen von der geistigen Welt durch die Geisteswissenschaft.»

Genau drei Jahre später greift Steiner, wiederum in Zürich, diesen Aufruf wieder auf: Er nennt drei Impulse, welche in den Seelen der Menschheit unbewusst veranlagt seien und die es wach zu ergreifen gelte, um die Wirkung der negativen «Gegenbilder» zu verhindern: Das Empfinden «absolutester Brüderlichkeit», dem, in jedem Menschen «ein verborgenes Göttliches zu sehen» und als dritten Impuls die Möglichkeit, das Denken aus seiner Befangenheit im Materialismus zu befreien.

Brüderlichkeit im Sinne von «sozialem Menschenverständnis» heißt laut Steiner «…  jeden zu nehmen, wie er ist, und aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen». Das wäre nach meinem Verständnis heute das, was in der Waldorfpädagogik mit Inklusion und Interkulturalität als Aufgaben dringend zu verwirklichen ansteht.

Gedankenfreiheit wäre als die Möglichkeit zu sehen, sich von allen Autoritäten, welche Gedankenrichtungen vorgeben, zu befreien und gegen das Paradigma des Materialismus und dem damit verbundenen Reduktionismus ein geistoffenes Denken zu setzen. Das zielt insbesondere gegen die Dominanz des Spezialistentums, welches alle anderen, die auf dem Spezialgebiet keine Expert:innen sind, per se vom Diskurs ausschließt. Es ist selbstverständlich unmöglich, sich auf allen Gebieten zu spezialisieren, aber es ist notwendig, sich so weit urteilsfähig zu machen, um Methoden und Denkrichtungen des Spezialistentums identifizieren und beurteilen zu können.

Für die Pädagogik bedeutet dieses Ringen um Gedankenfreiheit ein Bemühen um einen intellektuell-geistigen Universalismus, der die verschiedenen Weltsichten ohne Priorisierung ins Spiel bringt: das bedeutet Standpunkt- und Perspektivvielfalt. Ein umfassendes Weltinteresse fordert Steiner daher von den Lehrer:innen der ersten Waldorfschule – man ahnt, welcher «Geist» den Unterricht beleben soll, um diese Aufgabe, Schüler:innen zu urteilsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden, zu verwirklichen.

Idealverwirklichung in der Waldorfpädagogik wäre doch großartig und ließe sich daran erkennen, dass die Unterrichtsfächer mit ihren vielfältigen Methoden «… die Lernenden so anspornen, dass sie über sich hinauswachsen, und die Lehrenden so begeistern, dass sie ihren Lernstoff in einem völlig neuen Licht sehen. Und dafür gibt es nun einmal leider keine Patentrezepte», wie der Psychologe und Erziehungswissenschaftler André Zimpel schreibt.

Man erlebt: Aus der Anthroposophie gewonnene Ideale fordern Tätigkeit – aktuell mag man zwar eher von widrigen Winden sprechen, welche der Anthroposophie und damit auch der Waldorfpädagogik nicht günstig sind. Diese Winde wird man so schnell nicht ändern können, aber man hat die Möglichkeit, die Segel umgehend anders zu setzen!

Bei Interesse erhalten Sie gerne die exakten Quellenangaben und Literaturliste zu diesem Artikel. Anfrage per Mail an redaktion@erziehungskunst.de

Walter RiethmüllerWalter Riethmüller war viele Jahre lang Klassen- und Fachlehrer an den Freien Waldorfschulen Freiburg St. Georgen und Stuttgart am Kräherwald. Seit 1990 ist er Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart und dem Seminar für Waldorfpädagogik Berlin. Er war 2007 bis 2014 im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen und bis 2018 Mitglied des Ausbildungsrates. Er ist Vorstand der Pädagogischen Forschungsstelle im Bund der Freien Waldorfschulen.

Geschätzte Mitarbeiter:innen verabschiedet und willkommen geheißen

Hubert Schmidleitner, ehemaliger Mallehrer am Seminar für Waldorfpädagogik Berlin

Vor den Sommerferien haben wir am 16.07.2024 unsere geschätzen Mitarbeiter:innen verabschiedet:
Hubert Schmidleitner (Malen) und
Uwe Schulz (Plastizieren) in den Ruhestand,
Isabel Woppel (Eurythmie) in einen neuen Arbeitszusammenhang und
Elisabeth Klink (Geschäftführerin) in einen ganz neuen Lebens- und Arbeitsabschnitt.

Wir danken hier nochmal für die wertvolle Zusammenarbeit und wünschen alles Gute auf den weiteren Wegen.

Wir freuen uns sehr, aber auch zwei neue Mitarbeiter begrüßen zu dürfen!
Ralf Böttcher für die Geschäftsführung und
Carolina Chaparro für die Eurythmie.
Herzlich willkommen!

Ralf Böttcher, geschäftsführer vom Seminar für Waldorfpädagogik Berlin

Carolina Chaparro, Eurythmielehrerin am Seminar für Waldorfpädagogik Berlin

Teil 1: Gespräche über die Waldorfschule und werdende Waldorflehrer:innen

Was sagen Waldorfschüler:innen über die Waldorfschule?
Was ist gut an ihr? Was schätzen sie an ihren Lehrer:innen?

Ich sprach dazu mit drei Schüler:innen.

Mit diesen Berichten unterhielt ich mich mit drei Dozent:innen vom Waldorfseminar Berlin:
Wie nehmen sie das Gesagte wahr? Wie verstehen sie die Schüler:innen?
Und vor allem: Wie stellt sich das Seminar ins Verhältnis zu dem, was die Schüler:innen sagen?

Es sind drei interessante Pärchen entstanden!
Einen guten Eindruck wünscht,
Marian Conens
Öffentlichkeitsarbeit am Waldorfseminar Berlin

Hier das erste Pärchen:
Schauen Sie zuerst das Video mit Waldorfschüler Fjodor und dann mit Dozent Herrn Fischer: